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Edition Bonstettiana

Textprobe

Vorwort Bonstettens zu geplanter Publikation seiner Briefe an Johannes von Müller aus dem Italien von 1774, Entwurf von 1827, Schreibweise normalisiert:

»Ein halbes Jahrhundert steht nun zwischen dem Ich, das diese Briefe schrieb, und dem Ich, das sie jetzt in die Welt schickt. Menschen, Völker, Senate, von denen ich spreche, sind nicht mehr, und noch steht alles in der Erinnerung da! Was ist das Wunderwesen, das wir Erinnerung nennen, das zurück ruft das Unwiederbringliche, das wir Vergangenheit nennen, das Wesen, in dem, was nicht ist, doch lebendig dasteht. Meine Freunde, Müller, Trembley, sind nicht mehr; Venedig, die herrliche, liegt nun ohne Freiheit noch Leben im Morast begraben; die Schweiz, vor der mir graute, ist nicht mehr; die ehrwürdige Aristokratie von Bern, die Erhalterin alter Tugenden, die Feindin alles Neueren, ist nicht mehr; die alten Republiken sind gefallen, denn zu oft ist, was uns unverändert scheint, nur unbeweglich, weil schon der Tod es hält. Gesetze, Verfaßungen, Sitten, Könige sind gefallen, sobald die Zeit sie rief. Neue Menschen, neue Reiche, neue Sitten sind wunderbar aus der Vergangenheit aufgestiegen. Vergangenheit und Zukunft sind in uns, da doch nur die Gegenwart Wirklichkeit ist, und der Geist schwebt frei über was war, über was sein wird, über der alleinigen Wirklichkeit, über was ist. Er schwebt, wie ein Gott über alles Wirkliche, unabhängig in eigener Bahn fort. Wer kann beide Wesen verwechseln, wer ergründen die Bande, welche Geist und Materie in ewiger Freiheit aneinander knüpfen! Man kann nie genug sich die geistige Welt wie ein organisiertes Ganzes denken, wo alles zusammenhängt, um das ewige Gebären der Zeit zu bereiten. Diese Gedanken drängen sich mir mit Gewalt auf, wenn ich den weiten Zeitraum überschaue, der sich zwischen 1774 und 1827 ausdehnt.  Darum ich von der Vorwelt frei spreche, wie die Nachwelt tut. Der wahre Spiegel der Sitten, die nicht mehr sind, kann sich nur in den Empfindungen wiederfinden, die sie gaben, und die nur noch im Geist der wenigen, die noch da sind, leben. Meinem Freund allein gab ich meine innerste Seele zu lesen. Diese Seele hätte ich selbst ohne das Licht der Freundschaft nie gekannt. Die wahre Sonne, die alles in uns entwickelt und belebt, ist Liebe und Freundschaft. Wer nie geliebt hat, ist ewig verdammt, sich immer fremde zu bleiben.« (Nach originalem Autograph, Stadtbibliothek Winterthur)

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