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Edition Bonstettiana

Espérance Sylvestre, Weimar,  an Karl Ludwig von Knebel, Jena

 Brief, Autograph, signiert
Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv 54/278,1-23
Erstdruck
Datum: 22. November 1822

 Lektürevorschlag: Speranzas Adressat ist ein Gourmet; er liebt fein gewürzte Briefe wie aromatische Melonen und andere Leckereien. Was mag ihn an diesem Brief erfreut und erheitert haben? Lesen lässt er sich leicht. Speranza schreibt mit der neuen englischen Stahlfeder, über all die Jahre hin mit der immer gleichen beherrschten lockeren Hand, in schräge eilenden sicheren Zügen, gelegentlich Wörter verbindend und doch immer distinkt, Zeilenenden wie Zeilenfall akkurat beachtend, ein vierseitiges Doppelblatt selbstverständlich füllend. Schreiben als Akt der Befreiung, als Geschenk beglückender Freiheit in der Beziehung zum »lieben Herrn Major«, zum »lieben besten Freund«.

Speranza hat ihrem zeitvertilgenden Hofdienst einen Moment abgelistet, um in Gedanken nach Jena hinüber zu huschen und am warmen Ofen mit Knebel zu plaudern. Im Niederschreiben entfaltet sich spontan ein rondoförmiges Scherzo in drei Teilen, die, scheinbar zufällig sich fügend, für das lauschende Gehör des geistreichen Adressaten beziehungsreich verschränkt sind. Inhalt und Abfolge der Teile waren offenbar durch den (heute verschollenen) Bezugsbrief vorgezeichnet. Darin hatte Knebel (A) Speranzas Briefkunst gewürdigt, (B) Speranzas Schwester und Schwager in London nachgefragt und (C) Speranza um ihre Silhouette gebeten. Somit war die Beziehung zwischen ihm und der charmanten Genferin thematisiert.

Auf dieses dominante Beziehungsthema sind alle drei Teile von Speranzas Antwortbrief eingestimmt. In Teil A, einem quirligen Allegretto à la Haydn, witzig, kokett, burlesk, bittet die hereinwirbelnde Speranza, »verzogenes Kind«, den väterlichen Mentor, seine Gütigkeit nicht länger in Fantasien über die angebliche Schönheit ihrer Briefe zu verschwenden, vielmehr sie zu erlösen aus ihren schwarzen Fantasien über seine angebliche Bettlägerigkeit (Pandora-Motiv); ihre Briefe erschienen ihm nur deshalb so schön, weil er ihr die Gunst erweise, einem so charmanten geistreichen Korrespondenten ihr Herz öffnen zu dürfen; dessen eingedenk, sei es ihr geboten, bescheiden zu bleiben und sich keinesfalls >zu entdemütigen<, »de se déshumbliser« – er möge ihr diesen »Neologismus« nachsehen, denn die »Tyrannei« der französischen Grammatik verwehre ihr den freien Ausdruck des Gedankens. Soweit Teil A. Der kompositorische Reiz beruht auf mehrfach überkreuzten Kontrastierungen (Güte/Verzärtelung, Unterdrückung/Befreiung, Hässlichkeit/Schönheit, Schein/Sein), auf der schalkhaften Pointierung durch den mehrdeutigen Neologismus, in welchem das Ancien Régime mitsamt seinem »très humble Serviteur«, dem »untertänigsten Diener« knarrt, Persiflage aus dem Munde einer am Hofe bediensteten Genferin, der »kleinen Republikanerin«, die sich mit dem in Jena drüben Distanz wahrenden väterlichen Freund in verschworener Einhelligkeit weiss.

>Tyrannei< ist die >Noppe< (Noppe: Zufällige oder beabsichtigte knotenartige Verdickung des gesponnenen Fadens im Textilgewebe) im motivischen Gewebe, aus welcher der heroische B-Teil des Scherzos hervorgeht, ein Resümee eines Reisebriefs der Schwester Suzanne-Stéphanie aus Italien. Tyrannei und Befreiung bleiben Motive: Tyrannei der Wegelagerer, der Banditen mit der kuriosen barmherzig-mordenden Menschlichkeit von Wüstenbeduinen, nun noch begünstigt durch die Präsenz europäischer Souveräne, die im metternichschen Kongresszeitalter der Heiligen Allianz den politisch-revolutionären Banditen in Neapel und Piemont zu Leibe rücken lassen – Befreiung aber auch der Schwester, die mit ihrem Gatten dem englischen Winter entflieht und sich durch die byronesken erhaben-wilden Schönheiten der von Bonapartes Passstrasse bezwungenen Alpenlandschaft zu ungewöhnlich begeistert-begeisternden Schilderungen hinreissen lässt … die napoleonisch bezwingende Menschenhand (»main de l’homme«) korrespondiert mit Knebels lieber Hand (»Votre chère main«) und dem >On-dit< (»de bonne main«) in Teil A, aus welchem auch das Motiv der Angst, der Besorgnis wiederaufgenommen ist – Speranza ist um das Schicksal von Schwester und Schwager besorgt, »so vernünftig wie möglich«.

Teil C fällt im alla-breve-Tempo ein mit der schalkhaft-koketten Enttäuschung von Knebels Wunsch, Speranzas Silhouette in seiner >Kajüte< zu sehen, sie bietet stattdessen das Original an und preist, das Rondo scherzoso schliessend und in die dritte Person zurücktretend, die beglückende Konversation mit ihm als delizioses Vergnügen. Brief und mitgereichter Leckerbissen aus Genf sind ihre Gabe zum bevorstehenden 78. Geburtstag des väterlichen Freundes – »surcroît de gâterie«.

Nicht zu vergessen: Weimar ist nicht nur der Ort des >On-dit<, ein Klatschnest, sondern noch immer ein Ort von Musik, Schauspiel, Lektüre. Speranza hat ihren Logenplatz im Hoftheater, bewundert den von Marija Pavlovna berufenen und besoldeten Kapellmeister Hummel, sein perlendes Klavierspiel, und kennt ihn als Lehrer Augustas von nahe. Der Erbherzog liebt und protegiert die leichte Muse, Vaudeville, Tanz und Ball.

 Weymar 22. Novembre 1822

 Cher et bon Monsieur de Knebel, voici Votre enfant gâté qui vient causer un moment avec vous, et vous dire que quoiqu’elle soit bien gâtée, elle s’aperçoit du surcroit de gâterie qui lui vient de Votre chère main, elle a peur de devenir tout à fait ungezogen et de ne plus mériter vos bontés, Vous devriez bien avoir celle de m’épargner l’inquiétude de vous savoir malade, il m’est //revenu de bonne main que vous aviez dû garder le lit pendant quelques jours et voilà tout aussitôt mon imagination qui galoppe et qui vous voit tous les maux que renfermoit la boite de pandore, Mon Dieu qu’elle fut une sotte pecque de nous faire ces tristes présens, J’ai l’imagination toute noircie des suites de sa curiosité, Je veux me l’éclaircir en vous écrivant car vous êtes un charmant correspondant et répondre à vos lettres est un plaisir que je ne céderai pas pour beaucoup[1] quoique dans les vôtres, vous me supposiez de belles choses que j’en ai pas, et que vous me prétiez ce qui [1:] ma [2:] me. manque voilà l’avantage d’écrire aux gens d’esprit ils lisent au travers de leurs lunettes et on y gagne beaucoup, Je sens cet avantage comme je le dois, et ne peut me [1:] déshumblisé, [2:] déshumbliser. passez moi ce néologisme mais depuis que je begaye l’allemand, je ne puis parler français sans enrichir notre maigre langue aux dépens de la grammaire, pour laquelle j’ai un fort mince respect lorsque je crois que je peux donner l’idée de ce que je sens, en m’échappant à sa tyrannie, M[a]d[ame] Ma soeur[2] veut échapper à celle d’un hiver Anglais  par une lettre reçue hier de Milan, elle me dit que Rome et Naples auront le bonheur de la posséder si les redoutables Banditti ont la politesse de les laisser cheminer, Je crains que la présence des souverains ne soit une amorce à leur rapacité, Je lisois l’autre jour une notice sur leur manière de vivre, leurs moeurs, /enfin/ qui les représentait sous le plus bizarre mélange de témerité et de superstition, de barbarie et de pitié qui les rapproche// un peu de ces terribles Bédouins qui dévalisent les caravanes si elles ne se confient à leur générosité  Mais pour en revenir à ma Soeur +et son mari+ puis que vous avez la bonté de vouloir savoir de leurs nouvelles, je vous dirai qu’ils sont bien, /passant/ tombant d’étonnement en étonnement à la vue des merveilles de l’art et de la nature du pays qu’ils visitent, l’admiration transporte ma soeur, elle devient d’une +rare+ éloquence en me décrivant, ces ponts merveilleux, ces cascades ces voûtes, ces torrens, ces précipices, au milieu desquelles la main de l’homme a su créer une route sûre qu’on parcourt avec tant de rapidité que l’idée du danger /ne peut pas/ +n’a pas le temps de+ se faire jour au milieu de tous ces sentimens, que font naître /la vue de/[3] ces sublimes et sauvages beautés /qu’/que présentent la /vue/ route du Simplon; de Milan ils iront à Gênes puis comme cela jusqu’au bout de la botte, Dieu les y protége et conduise sans accident, Je ne leur écris pas que je tremble mais je le fais, aussi sagement que je peux. Que vous êtes bon d’avoir envie de ma silhouette, ce seroit bien peu de chose car j’ai un petit nez qui ne figureroit point en papier noir ne pouvant vous l’envoyer il faut que je vous répéte que l’original se trouveroit bien volontiers plus souvent auprès de vous et qu’une de vos conversations est un des ses plus grands plaisirs, lorsque vous serez bien écrivez le moi afin que je me réjouisse de vous sentir usant de toutes nos facultés, J’ai fait votre commission à M[a]d[ame] de Ziegesar[4] et vous souhaite bien de plaisir à lire O mearas[5] Je m’en fais un grand aussi; adieu portez vous bien et mangez pour moi ces gourmandises qu’on m’a envoyées de Genève  a Dieu tout à vous de Coeur Espérance.

 [Deutsche Übersetzung:] Espérance Sylvestre, Weimar, an Karl Ludwig von Knebel, [Jena], 22. November 1822

Weimar, 22. November 1822

 [A] Lieber guter Herr von Knebel, da kommt Ihr verzogenes Kind und will einen Moment mit Ihnen plaudern und Ihnen sagen dass es zwar sehr verzogen ist aber eben bemerkt, dass Ihre liebe Hand die Verwöhnung nun wirklich übertreibt sodass es Angst hat endlich ganz „ungezogen“ zu werden und unwürdig Ihrer Güte, die Sie doch bitte darauf verwenden wollen mir die Angst zu ersparen dass Sie krank sind; ich weiss von gut unterrichteter Seite, dass Sie einige Tage das Bett hüten mussten, da beginnt meine Phantasie durchzubrennen und sieht Sie mit allen Übeln behaftet, welche Pandorens Büchse bereitgehalten, mein Gott, was für eine dumme Gans, uns so jämmerliche Geschenke zu bescheren, meine Phantasie ist rabenschwarz von den Folgen ihrer Wissbegier, ich will sie mir aufhellen indem ich Ihnen schreibe, denn Sie sind ein charmanter Korrespondent und auf Ihre Briefe antworten ist ein Vergnügen das ich um vieles nicht gäbe, auch wenn Sie mir in den Ihrigen Schönes unterstellen das ich nicht habe und mir andichten was mir abgeht, aber das ist eben der Vorteil wenn man geistreichen Menschen schreibt, sie lesen alles durch ihre Brille und dabei gewinnt man viel, ich bin mir des Vorteils bewusst wie es sich gehört und kann mich nicht entdemütigen, Verzeihung für den Neologismus, aber seit ich Deutsch stammle kann ich nicht Französisch sprechen ohne unsere magere Sprache auf Kosten der Grammatik zu bereichern, die mir egal ist wenn ich zum Ausdruck bringen kann was ich meine und ihrer Tyrannei entrinne, [B] meine Frau Schwester* will derjenigen des englischen Winters entrinnen, in einem gestern aus Mailand empfangenen Brief sagt sie mir, Rom und Neapel hätten das Glück sie zu beherbergen falls die Banditen so freundlich wären sie des Weges ziehen zu lassen, ich fürchte die Anwesenheit von Fürsten steigere deren Raubgier, ich las kürzlich einen Artikel über ihre Sitten und Bräuche, ein wunderliches Gemisch aus Verwegenheit und Aberglauben, Barbarei und Barmherzigkeit, wodurch sie jenen schrecklichen Beduinen gleichen, welche Karavanen ausplündern, sofern sie sich nicht ihrer Grossmut anvertrauen. Aber um auf meine Schwester und ihren Mann zurückzukommen da Sie so gütig sind ihnen nachzufragen, kann ich Ihnen vermelden, dass sie wohlauf sind, nicht aus dem Staunen herauskommen über all die Kunst- und Naturwunder des Landes das sie bereisen, meine Schwester überfliesst von Begeisterung und ist von einer Beredsamkeit, die ich an ihr gar nicht kannte, so wenn sie mir die herrlichen Brücken beschreibt, die Kaskaden, die Gewölbe, die Wasserfälle, zwischen denen hindurch von Menschenhand eine sichere Strasse angelegt wurde, auf der man so hurtig vorankommt, dass allfällige Gefahren keine Zeit haben all die erhabenen Empfindungen zu stören beim Anblick der grossartigen wilden Schönheiten, welche die Simplonstrasse darbietet; von Mailand wollen sie weiter nach Genua und so fort bis ans Ende des Stiefels, Gott behüte sie und bewahre sie vor Unfällen, ich schreib’ ihnen nicht wie besorgt ich bin, aber ich bin’s, so vernünftig wie möglich. [C] Wie lieb von Ihnen nach meiner Silhouette zu begehren, ach da würde wenig daran sein, ich habe ein kleines Näschen, auf schwarzem Papier sicherlich unsichtbar also kann ich Ihnen nichts schicken und sage darum aufs neue dass sich das Original noch so gern und öfter bei Ihnen einfinden mögte und dass Ihre Konversation eins seiner allergrössten Vergnügen ist; sind Sie wieder wohlauf so schreiben Sie mir, damit ich mich freuen kann und Sie im Besitz all unserer Vermögen weiss; die Kommission an Frau von Ziegesar* habe ich ausgeführt und wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre von O’Meara*, das meine ist nicht geringer; Adieu gehaben Sie sich wohl und essen Sie für mich die Leckerbissen die man mir von Genf geschickt hat, Adieu, von Herzen die Ihre   Espérance.



[1]           Am Seitenfuss, Lesung unsicher: pour beaucoup. – Folgt Seitenwechsel recto-verso.

[2]           Susanne-Stéphanie Brandt, née Sylvestre (1786-1857), Gattin des Emmanuel Henry Brandt, aus Hamburg, ab 1807 in London: »Operating from Batson’s Coffee House in London E. H. Brandt and Company were active traders.« (Quelle ® Ende Fussnote) Emamnuel Brandts Londoner Firma war das europäische Standbein der 1801 vom Bruder William Brandt (1778-1832) und Jacob B. Rodde in Archangelsk gegründeten Handelsfirma >Rodde, Brandt and Company<, die nach den napoleonischen Wirren im Jahr 1816 in Archangelsk von William wiedereröffnet wurde und als weltweit tätige >William Brandt and Company< firmierte. Der Archangelsker Firmenzweig etablierte sich 1950 abermals in London als >William Brandt’s Sons<. – Das von Emmanuel Brandt angelegte wirtschaftsgeschichtlich interessante Firmenarchiv wurde 1975 vom Nachfahren Walter A. Brandt, London, der University Library/University of Illinois übergeben; analytisches Verzeichnis: www.library.illinois.edu/archives/uasfa/1535050.pdf .

 [3]           Seitenwechsel recto-verso.

 [4]           Luise von Ziegesar, geb. Freiin von Stein zu Nord- und Ostheim.

 [5]           Der Arzt Barry Edward O’Meara (1786-1836) veröffentlichte sein Tagebuch unter dem Titel: Napoléon en exil ou L’Écho de Ste-Hélène. Ouvrage contenant les opinions et les réflexions de Napoléon sur les événemens les plus importans de sa vie. Paris 1822.

 

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